Der große IS-Fortsetzungsroman, Teil 1. Von Holger Kunadt

Sizilianische Verteidigung

Langsam kehrte Ruhe ein im Kongreßpalast. Die Pressekonferenz war beendet. Die Aufregung um den Weltmeister hatte sich etwas gelegt. Grosser kehrte in seine Kabine zurück. Er war unzufrieden mit dem, was er erblickte. Wie üblich hatte er ein Chaos hinterlassen, wie es vollkommener nicht denkbar war. Aber immerhin: Er hatte den Trainer und all die anderen Aufdringlichen abwimmeln können und das war ein Erfolg, der den Anblick seines Konditionierungsraumes um einiges aufhob.
Er ließ sich in einen Sessel fallen und griff nach einer Flasche Bier: ein Genuß, den er sich nur selten gönnte; heute allerdings hatte er allen Grund dazu. Im Geiste vollzog er noch einmal die letzte Partie nach und erfreute sich daran. Nicht nur aus Eitelkeit, obwohl auch sie sicher eine Rolle spielte, sondern mehr aus der Freude an der schönen Kombination heraus. Er hatte mit den schwarzen Figuren ein Springerendspiel durch eine für alle verblüffende Wendung zu seinen Gunsten entscheiden können. Verblüffend auch für ihn selbst, einfach durch die Tatsache, daß der Gegner die geschickt aufgebaute Falle nicht bemerkt hatte.
Überhaupt, diese Springer. Schon immer hatten sie ihn fasziniert durch die Sonderstellung, die der Rösselsprung im Schachspiel einnahm. Später war ihm dann zwar klargeworden, daß es nicht nur das allein war, sondern überhaupt die Komplexität des Spiels, die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, die in ihm steckten. Doch die Springer hatten es ihm auch heute noch besonders angetan.
Der Großmeister nahm einen zweiten Schluck Bier und genoß die Ruhe, die es ihm ermöglichte, noch einmal verschiedene Spielsituationen vorbeiziehen zu lassen. Sein Kopf war fast kahl, sein Körper groß und massig, aber nicht fett. Er war fast fünfzig und hatte alles erreicht, was es auf seinem Gebiet zu erreichen gab. Doch selbst wenn er den Weltmeistertitel nicht hätte verteidigen können, dem Schachspiel wäre er treu geblieben. Es war sein Schicksal. So aber waren die unbegründeten Gerüchte über seinen Rücktritt vom Leistungssport wieder einmal vertagt worden.
Als er bei diesem Punkt seiner Gedanken angekommen war und gerade wieder nach seiner Bierflasche greifen wollte, um sie endgültig zu leeren, flog die Tür mit lautem Krachen auf und ein gerade noch junger Mann stürzte herein, in der Hand einen dicken Aktenordner, in der anderen eine flache quadratische Papiertasche.
Rot im Gesicht und keuchend, als wäre er sämtliche Treppen des Kongreßpalastes im Laufschritt entlanggehastet, rief er ohne sich vorzustellen: "Ich habe das Schachproblem gelöst!"
"Welches Schachproblem?" fragte Grosser. Er war anfangs erbost über die Störung, doch als das Wort "Schachproblem" fiel und offensichtlich wurde, daß der soeben Eingetretene kein Reporter, Autogrammjäger oder sonst irgendein Neugieriger war, beruhigte er sich wieder. "Eben ... das Problem des Schachspiels überhaupt!"
Grosser hob erstaunt die Brauen. "Und worin besteht das Ihrer Meinung nach?"
"Weiß gewinnt!" sprudelte der junge Mann hervor.
Der Großmeister, der sich halb von seinem Sitz erhoben hatte, ließ sich nun mit einem Schmunzeln wieder zurückfallen und genehmigte sich den letzten Schluck des Bieres, was durch das überraschende Eintreffen des anderen verzögert worden war, stellte die Flasche ab und setzte ein breites Grinsen auf. "Wenn Sie vorhin im Saal gewesen sind, junger Mann - wie heißen Sie überhaupt? -, dann werden Sie gesehen haben, daß ich die letzte Partie gewonnen habe. Und zwar mit den schwarzen Steinen." [Fortsetzung folgt.]

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