Der große IS-Fortsetzungsroman, Teil 2. Von Holger Kunadt

Sizilianische Verteidigung

..."Entschuldigen Sie. Thomas heiße ich. Gilbert Thomas. Aber - gewinnen konnten Sie vorhin nur deshalb, weil Ihr Gegner Fehler gemacht hat."
Grosser grinste immer noch spöttisch. "Nun, das will ich nicht bestreiten."
In den Augen des Jüngeren blitzte Triumph auf. "Er hätte diese Fehler aber vermeiden können!"
Das Lächeln aus Grossers Gesicht verschwand langsam. "Was wollen Sie damit sagen? Jeder macht Fehler."
"Weiß muß gewinnen! In jedem Fall! Weiß eröffnet und hat damit einen Halbzug Vorsprung. Ein Vorsprung, der, setzen wir voraus, daß beide Parteien fehlerfrei spielen, nie wieder aufzuholen ist. Im Grunde ist das völlig simpel. Ich habe hier das Rechnerprogramm", er warf die quadratische Tasche auf den Tisch, die einige Disketten enthielt, "und hier alle möglichen Partien." Der Aktenordner, er enthielt einen etwa fünf Zentimeter starken Stapel Druckerpapier, landete ebenfalls auf dem Tisch.
"Alle möglichen? Sie machen Witze!" Grosser war dennoch während der kurzen Rede des anderen merklich blasser geworden.
"Alle diejenigen, die wirklich effektiv sind", sagte Thomas, "das heißt, wo Fehler jeglicher Art bei beiden Parteien von vornherein eliminiert sind. Im Grunde ist das ganz einfach. Es gibt zwanzig Ausgangsvarianten, von denen aber ein Großteil von vornherein wegfällt, weil diese Züge zu einem sofortigen entscheidenden Übergewicht von Schwarz führen, also zu den vorhin genannten Fehlern zählen. Es bleiben wenige effektive Partien übrig" - Grosser faßte sich an die Brust und rang nach Atem, während der andere sprach -, "bei denen allesamt Weiß am Ende den Sieg davonträgt, eben wegen des Entwicklungsvorsprunges. Im Grunde könnte man das ganze Schachspiel auf eine Partie reduzieren, nämlich auf die effektivste, eine Variante der Sizilianischen Verteidigung; das ist nämlich diejenige, bei der sich Schwarz am längsten verteidigt, insgesamt zweihundertvierzehn Züge lang."
Gilbert Thomas schwieg. Eine Zeitlang war er etwas verunsichert, da der Großmeister bleich und regungslos aus seinem Sessel zu ihm herüberstarrte. Dann aber schlug dieser die Augen nieder, deutete mit einer kraftlosen Geste auf die beiden Mitbringsel und sagte mit einer Stimme wie zerknitterndes Zeitungspapier: "Das haben Sie alles da drin?"
"Genau!"
Grosser hob die Lider wieder und blickte sein Gegenüber an. "Wissen Sie, was Sie getan haben?"
Sein Gegenüber war irritiert.
"Sie haben versucht, das Schachspiel umzubringen!"
Der Jüngere zuckte zurück und erwiderte mit empörter Stimme: "Ich habe es lediglich auf eine einfache Formel gebracht!"
"Sie haben versucht, das Schachspiel umzubringen", wiederholte der Großmeister. Er schien über etwas nachzudenken. Sein Körper straffte sich und, er blickte dem anderen fest in die Augen.
"Wenn ich nun aber", sagte er, "eine Partie mit einem Zug beginnen würde, den Sie zu den offensichtlichen Fehlern rechnen und eliminiert haben?"
Thomas erwiderte etwas verwundert: "Ich würde Sie in weniger als zweihundertvierzehn Zügen besiegen." [Fortsetzung folgt.]

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