Der große IS-Fortsetzungsroman, Teil 3. Von Holger Kunadt

Sizilianische Verteidigung

Grosser verlor nun alle Starre und beugte seinen massigen Oberkörper vor, immer noch die Augen seines Gegenübers fixierend; dann sagte er leise und gedehnt, aber mit scharfer Stimme: "Sie?"
Der Jüngere begann sich offensichtlich unwohl zu fühlen. "Also ... ich müßte das Programm befragen."
"Spielen Sie selbst oft Schach?" klang es ebenso scharf.
"Von Zeit zu Zeit."
"Und Sie verlieren oft?"
Gilbert Thomas nickte errötend.
"Aber hin und wieder haben Sie auch gewonnen?" fragte Grosser. Die Antwort war wiederum ein Nicken.
"Und was haben Sie dabei gespürt?"
"Ich habe ... mich gefreut, natürlich ..."
"Ah, also kennen Sie es ..." Grosser fühlte sich auf einmal wie beim Schachspielen selbst, in einem beklemmend knappen Endspiel. Er hob die Stimme nur leicht, aber doch deutlich hörbar. "Sie kennen das Gefühl, das man hat. Jeder wirkliche Schauspieler legt Wert darauf, daß es seine Züge sind, die er auf dem Brett ausführt. Und keiner von ihnen wird sie sich von Ihrem Programm diktieren lassen wollen. Jeder will seinen eigenen Sieg erleben, nicht einen sich gesetzmäßig vollziehenden Prozeß. Sie selbst, Gilbert, kennen das vielleicht nicht gut genug, sonst wären Sie nie auf solch eine haarsträubende Idee gekommen. Mag sein, daß mancher sich für Ihr Programm interessieren wird. Mag sein, aber dann ist es nur reine Bequemlichkeit, geboren aus dem Mittelmaß. Und gerade das macht mir Angst. Wenn Sie etwas Gutes tun wollen, dann vernichten Sie dieses Programm, vernichten Sie es schnell. Es macht mir angst. Nicht etwa", Grosser wehrte eine auffahrende Handbewegung Thomas' ab, "weil ich Angst um meinen Titel habe. Irgendwann werde ich ihn abgeben müssen, das ist mir klar. Ich habe Angst, daß wir die Freude am Denken verlieren werden, die Begeisterung angesichts einer schönen Kombination, die Ekstase einer plötzlichen Erkenntnis. Was wird aus uns, wenn wir das alles Programmen wie dem Ihren überlassen?" Er erhob sich aus dem Sessel und stand wie eine Barriere vor Thomas. Der fühlte sich auf einmal unendlich klein und sein Selbstbewußtsein schrumpfte immer mehr. All die Jahre - verloren? Für nichts als eine Illusion, der er nachgerannt war? Es schien so zu sein.
"Außerdem, Gilbert," sagte Grosser, "glaube ich nicht, daß Ihr Programm perfekt ist." Mit einer Handbewegung verscheuchte er alle Einwände seines Gegenübers, der schon wieder aufgesprungen war. "Widersprechen Sie mir nicht! Ich will nichts mehr hören! Ich muß mir selbst diese Hintertür lassen, denn selbst wenn Sie, wie ich hoffe, dieses Programm vernichten, hätte ich nie mehr die Freude am Schachspiel, die ich vorher daran hatte, weil ich ständig daran denken müßte, daß die Patentlösung in Ihrem Kopf existiert. Und ich hätte ständig die Vision eines Schachturniers, in dem alle Teilnehmer lediglich eine Variante der Sizilianischen Verteidigung nachvollziehen, die zweihundertvierzehn Züge lang ist und deren Ausgang von vornherein feststeht." Grosser ließ sich in den Sessel zurückfallen. "Und nun gehen Sie! Tun Sie mit Ihrem Material, was Sie wollen, aber gehen Sie!"
Thomas erhob sich und streckte die Hand nach dem Ordner und den Disketten aus, vorsichtig, als glühten diese. Dann zog er sie wieder zurück und sagte: "Ich werde das hierlassen, verfahren Sie nach Ihrem Gutdünken damit." Grosser zuckte zusammen: "Nein! Nehmen Sie alles mit und verbrennen Sie es, aber lassen Sie es nicht hier! Ich könnte es nicht ertragen, es selbst zu tun. Das zu vernichten ist Ihre Aufgabe - wenn Sie es wirklich wollen."
Thomas packte zögernd seine Sachen zusammen und ging. Er verließ das Zimmer viel leiser, als er es betreten hatte. Als er fort war, wurde es noch stiller. Im Lehnsessel thronte hinter einem Schachbrett ein großer Mann, ein großer alter Mann, der sich bemühte zu vergessen, daß er ein großer alter gebrochener Mann war.
ENDE

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