In der Tat 2
Die Beziehung zwischen Schachspiel und Wirklichkeit reicht jedoch tiefer.
Sie betrifft die Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz: Seit der
Herausarbeitung aus dem Tierreich hat der Mensch die Fähigkeit entwickelt,
sich bewußt Ziele zu setzen, d.h. Zukunft zu antizipieren, um denn durch sein
Handeln die gegebenen Lebensbedingungen zu verändern, Wirklichkeit umzugestalten.
Die Entwicklung dieser Fähigkeit ist zur Bedingung menschlicher Existenz geworden.
Und Geschichte ist nichts enderes als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden
Menschen.
Der Realisierung der gesetzten Ziele aber stehen beachtliche Hindernisse entgegen.
Welche Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten in einer gegebenen Lage enthalten
sind, kann nur eine sorgfältige Untersuchung eben dieser Lage lehren. Und diese ist
sehr schwierig, weil dabei viele Faktoren zu bedenken sind und Wechselwirkungen
am Werke sind, die oft auf den ersten Blick gar nicht erkennbar sind. Hinzu kommt,
daß den eigenen Zielen der Wille anderer gegenübersteht, die andere Ziele, womöglich
gerade die gegenteiligen anstreben.
Jedenfalls sind die Folgen der eigenen Handlungen schwer abschätzbar. Bei den
kurzfriatigen ist das noch leicht, aber bei den längerfristigen wächst die
Unsicherheit. Jede Entscheidung enthält also Risiken - und dennoch ist der Mensch
ständig gezwungen, Entscheidungen zu treffen. Sich 'herauszuhalten', einfach
gar nicht handeln oder abwarten, bis alle Folgen absehbar sind, ist schlechterdings
unmöglich.
Es ist erstaunlich, wie präzis diese Grundsituation des Menschen im Schachspiel
dargestellt ist; natürlich in typisierter und vereinfachter Form, aber doch
zugleich in überraschender Komplexität. Bei jedem Zug befindet sich der
Schachspieler in dieser Situation des zum Handeln Gezwungenen, d.h. zur genauen
Analyse der gegebenen Lage und der in ihr enthaltenen Möglichkeiten und zur
Entscheidung für bestimmte Schritte, um dem ins Auge gefaßten Ziel näher zu
kommen. Und obwohl die längerfristigen Folgen in den meisten Fällen nie genau
berechenbar sind, ist er zum Handeln gezwungen. In der Tat geht so manche Partie
dadurch verloren, daß sich der Schachspieler angesichts der Unübersichtlichkeit
der gegebenen Lage und der nicht genau absehbaren Folgen nicht entscheiden kann
und die Zeit überschreitet - also mit den Notwendigkeiten dieser Grundsituation
nicht fertig wird. (In den Gesellschaftswissenschaften wird diese Position von
jenen repräsentiert, die erklären, die Realität sei so komplex, daß man überhaupt
nichts Zuverlässiges über sie aussagen könne.)
Hat sich der Schachspieler aber entschieden,so bekommt er die Folgen seiner
Handlungen präsentiert. Sie treten ihm nun in aller Härte als "objektive Tatsachen"
geqeniiber. Und hat er die gegebene Lage und ihre Möglichkeiten unzureichend
untersucht,so bekommt er drastisch zu spüren, daß es seine realen Handlungen
und deren Folge sind, die zählen, und nicht etwa seine guten Absichten.
Was den guten Schachspieler von dem weniger guten unterscheidet, ist also die
gleiche Tätigkeit, die z.B. auch den guten Gesellschaftswissenschaftler von dem
weniger guten unterscheidet: Es geht nicht etwa darum, das der eine "richtig"
denkt und der andere "falsch", sondern es geht um die Fähigkeit, eine gegebene
Bedingungskonstellation nicht nur oberflächlich nach ihren äußeren Merkmalen
zu bestimmen, sondern tiefer nach ihren inneren verborgenen Zusämmenhängen
und daraus resultierenden Veränderungspotentialen. Und wenn Kasparow jetzt
Weltmeister geworden ist, dann deshalb, weil er diese Fähigkeiten hat,
und nicht etwa, weil er besser oder weiter rechnen kann als andere.
26
Seite 25
INSELSCHACH 60
Seite 27