Das Schachspiel als Spiegel des Lebens

Im Herbst 1985 ging ein dramatischer Kampf um die Scnachweltmeisterschaft zu Ende, den Millionen von Schachspielern in aller Welt mit Spannung verfolgten. Im Sommer dieses Jahres wird der neue Weltmeister Kasparow den Titel zu verteidigen haben.
Was ist das für ein Spiel, das seit über 2000 Jahren so viele Menschen fasziniert? Über das hohe Ansehen des Schachspiels gibt es breite Übereinstimmung durch alle Schichten und Klassen hindurch, gerade auch bei denen, die es nicht ausüben. Goethe nannte es einen 'Probierstein des Gehirns', und Schopenhauer behauptet, das 'Schachspiel übertrifft alle anderen Spiele so weit wie der Chimborasso einen Misthaufen'. Ist diese Wertschätzung in der Sache selbst begründet? Lies soll heißen, das Schachspiel schärfe das Denkvermögen? Nun gibt es zwar allerlei Untersuchungen über die Psychologie des Schachspielers, die meist darauf hinauslaufen, daß es sich dabei um zwar scharfsinnige, aber etwas weltfremde, vielleicht von Vatermordgelüsten getriebene, jedenfalls ziemlich monomane, im Falle der besonders genialen gar vom Wahnsinn bedrohte Individuen handele. (In diese Richtung gehen auch die meisten literarischen Gestaltungen, auch Stefan Zweigs "Schachnovelle".) Aber über die objektive Seite, über das Wesen des Schachspiels selbst, über die objektiven Anforderungen, die es an den Schachspieler stellt, habe ich wenig gefunden. Auch die sogenannte "Spieltheorie" in den Sozialwissenschaften, die sich oft direkt auf das Schachspiel bezieht, trifft meine Erfahrungen als Schachspieler und Gesellschaftswissenschaftler nur zu einem geringen Teil.

Die anonyme Masse der Bauern
In welcher Weise also spiegelt sich Wirklichkeit in Schachspiel? Diese Frage läßt sich auf vier Ebenen diskutieren.
1. Auf der einfachsten, bisher auch schon gut erforschten Ebene ist der Zusammenhang evident: In der Art und Weise, wie die Spielregeln festgelegt und die Figuren gestaltet werden, spiegeln sich reale historische Bedingungen und Veränderungen. Dafür einige Beispiele: Als das Schachspiel im alten Indien vor über zweitausend Jahren entstand, stellte es ein Kriegsspiel dar, und die Figuren repräsentierten die gebräuchlichen Waffengattungen: das Volk, die Reiterei, die Kampfelefanten und - vermutlich - die Kampfwagen. Daneben gab es natürlich den Befehlshaber, der dann im persisch-arabischen Raum "Schah" heißt und dem Spiel fortan den Namen gab. Den Figuren eignen daher unterschiedliche Bewegungsformen; in der Wucht der Türme mag noch heute etwas von der Wucht dieser Kampfelefanten spürbar sein.
Etwa um die Wende zum ersten Jahrtausend war das Schachspiel, vermittelt durch die Araber, hauptsächlich über Nordafrika und Spanien nach Europa gelangt. (Ein anderer Weg führte über Rußland nach Skandinavien.) Für den Adel, der das Schachspiel nun pflegte, wurden die einzelnen Figurentypen schön ausgestaltet - mit einer Ausnahme: Die Bauern blieben in der Regel gesichtslos. Sie galten in dar Feudalgesellschaft eben nicht als Menschen im eigentlichen Sinn, sie waren hier eine anonyme Masse.
Als im 15. Jahrhundert die moderne Naturwissenschaft aufkam und den Lauf der Gestirne berechnete, als Amerika entdeckt und der afrikanische Kontinent umschifft wurde, weiteten sich dar Horizont und der Aktionsradius der Menschen gewaltig aus. Auch der Aktionsradius von Schachfiguren wurde nun größer. Läufer und Dame erhielten nun jene großzügige Bewegungsform, wie wir sie heute kennen. Es ist also offensichtlich, daß sich konkrete historische Entwicklungen, daß sich der "Zeitgeist" auch in der Art und Weise ausdrückt, wie jeweils Schach gespielt wird.

- Wegen der Länge das Artikels folgt Teil 2 in INSELSCHACH 59 -

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