Opfer der Schachgöttin (1996. Fortsetzung)

Als Thomas Borchert im Alter von elf Jahren das Spiel, das laut Fine "mit der Dame als Muttergestalt auch die Familiensituation symbolisieren kann", kennenlernte, hatte er schon manchen erbitterten Streit mit seiner - durch die Scheidung schwer frustrierten - Mutter hinter sich. Sie trieb ihn, "auch mit Schlägen", zu besonderen Leistungen an.
Thomas schlug gleich am ersten Tag seinen Lehrmeister und war fortan dem Spiel verfallen. Er erkannte schnell, daß er endlich das Medium gefunden hatte, mit dem er, der sonst in der Schule durch Aggressivität und Clownerie auffiel, seine Dominanzgelüste im fairen Zweikampf befriedigen konnte. Wie alle unsere Gesprächspartner liebte er das Spiel in erster Linie wegen des sportlichen Aspekts, des geistigen Kräftemessen und der Triumphe. Erst später, als er daran ging, seine Schachkarriere systematisch vorzubereiten, faszinierte ihn auch das Wissenschaftliche am königlichen Spiel, das Studium der Eröffnungsstrategien, das Künstlerische, der Genuß bei ästhetisch gelungenen Partien.
Das Abitur schaffte Thomas noch relativ problemlos, aber das Studium, Pädagogik, gab er nach sechs Semestern auf, weil es ihn nicht mehr interessierte. Wie ein Süchtiger gab er sich dem Schach und der Jagd nach dem IM-Titel hin, unterbrochen von unglücklichen Liebesaffären und zwei Selbstmordversuchen. Er lebte von Bundesligaeinsätzen, Schachbuchtantiemen und geliehenem Geld seiner "Hausbank, sprich Mutter". 22 Jahre lang hat er "mehr Zeit und Energie verschwendet, als ich für fünf Doktortitel gebraucht hätte". Jetzt hat er den IM-Titel und muß "aufpassen, daß ich nicht schon wieder zu träumen anfange".
Tatsächlich reicht ein IM-Titel keineswegs, um von einer Schachkarriere zu träumen. Die meisten der 41 deutschen IM bestreiten ihr Leben nicht vom Schach. Einer, der es versucht, ist der 25jährige Werner Mahlmann (Elo 2430), der am Telefon erklärte, daß er durch seine Bundesligaeinsätze und Simultanpartien, als Schachtrainer, mit Schachbeiträgen in den Fachzeitschriften sowie an Preisgeldern auf öffentlichen Turnieren genug verdiene, "um gut zu leben". Was ist gut? Er wollte keine Zahlen nennen, aber nach Meinung seiner Szenekollegen "lebt er so bescheiden, daß Gott erbarm", zumal er oft "unwürdig niedrige Honorare akzeptiert".

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