"Alles fließt", so lehrte der griechische Philosoph Heraklit im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, und die Ursache dieser Bewegung läge in der Konfrontation der Gegensätze, der Widersprüche. Die dialektische Philosophie der 19. Jahrhunderts seit Hegel hat diese Lehre aufgegriffen und zu einer umfassenden Theorie von den Bewegungsgesetzen des materiellen und des geistigen Seins entwickelt. Das Schachspiel lehrt aber eindringlich: Es gibt keinen Stillstand, es ist unmöglich, die Veränderung anzuhalten, etwa dadurch, daß man sich selbst passiv verhält. Eigene Passivität hat keineswegs Stillstand zur Folge, sondern die Beschleunigung dar Bewegung im Sinne der Gegenseite. Gleichgewicht ist zwar möglich, aber nur als Resultat der Aktivität beider Seiten, also als vorübergehender Zustand eines dynamischen Prozesses. Erst wenn die Energien beider Seiten erschöpft sind, kann es Stillstand geben - aber dann ist die Partie zu Ende.
Natürlich darf die These, das Schachspiel sei ein Abbild des wirklichen Lebens, nicht zu weit gefaßt werden. Es handelt sich vorab um ein stark vereinfachtes Abbild und viele Bereiche der Wirklichkeit finden im Schachspiel überhaupt keine Analogie. Schon die Tatsache, daß sich beim Schachspiel nur zwei Parteien gegenüberstehen, daß diese von Anfang an und in aller Eindeutigkeit als Gegner definiert sind, daß es in dieser Hinsicht auch keine Veränderung geben kann und schließlich: daß der Kampf nach einer bestimmten Zeit definitiv beendet ist, setzt der Analogisierung deutliche Grenzen. Noch wichtiger ist, daß das Schachspiel gegenüber der Frage der Moral gleichgültig ist: die Ziele beider Seiten sind zwar formal entgegengesetzt, inhaltlich aber identisch. Und sie lassen sich mit Begriffen wie gut und böse, human und inhuman nicht fassen. Damit bleibt der eigentliche Inhalt politischer Kämpfe und individueller Entscheidungen außerhalb dessen, was vom Schachspiel erfaßt werden kann.
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